Die wohl kleinste Veranstaltung in der Lesereihe „Mainz liest ein Buch“ fand am 22. September im ZMO Buchstabensalon in Mainz-Bretzenheim statt. Es hatten sich zwölf Personen eingefunden, darunter Herr Schröder vom Verein „Mainz liest“. Wir hatten urlaubs – und krankheitsbedingt erst spät Reklame für unsere Veranstaltung gemacht. Die Thematik dieses Buches liegt uns jedoch sehr am Herzen. Der ZMO Buchstabensalon ist auch nicht für ein großes Publikum gedacht und sein gemütliches Ambiente schafft sofort eine Wohlfühlatmosphäre, so wie auch an diesem Abend.
Nach einer Einführung in die Arbeit und das Anliegen des Vereins „Mainz liest“ durch Herrn Schröder zeigte die anschließende Diskussion sehr schnell, dass wir hiermit richtig lagen; das Buch „Neringa“ von Stefan Moster beschreibt die Problemkreise, mit denen sich der ZMO seit Jahrzehnten beschäftigt. Der ZMO versteht sich als Integrationsverein; in ihm begegnen sich Menschen unterschiedlichster Herkunft und Lebenswege. Und so sind Standortbestimmung, die Auseinandersetzung mit verlorener bzw. neu zu findender Heimat, die Beschäftigung mit Wurzeln und Vorfahren, die Frage nach echten Lebenswerten und die Suche nach Authentizität Dauerthemen. Sie bearbeitet der ZMO auf unterschiedlichste Weise. Die lebhafte Diskussion zeigte deutlich, dass von diesen Problemkreisen fast jeder betroffen ist, und zwar quer durch die Generationen.
Mosters Buch sprach jeden Teilnehmer an, jeder verstand den Protagonisten. Und sowohl die Themenwahl als auch die textliche Darstellung empfanden die Teilnehmer uneingeschränkt als positiv. Hier sei nichts aufgesetzt. Die Darstellung der psychologischen Sitzungen hätte man sich allerdings verkürzter denken mögen. Umso einhelliger bestätigten alle Teilnehmer den metaphorischen und symbolischen Wert des sich durch das ganze Buch ziehenden Pflastermotivs. Ganz unabhängig davon, ob hier nachgewiesen ist, dass Jakob Flieder, Großvater des Protagonisten, nun wirklich alle angeführten Straßen und Plätze in Mainz gepflastert hat, wird sein Beharren auf Genauigkeit seiner Arbeit, auf Selbstbestimmung in seiner Arbeit und die Verteidigung seines Berufsstolzes, auch noch in den unmöglichsten Lebenslagen und durch die unterschiedlichsten Zeitläufte, für seinen Enkel maßgebend.
Dieser, auf der Suche nach Halt, Sinn und Würde in seinem Leben, entdeckt den Großvater als Vorbild. Einig war man sich auch darin, dass dieser Wertepool von der zweiten Entdeckung des Ich-Erzählers, seiner litauischen Putzfrau Neringa, fortgeführt wird. Beide, der Großvater Jakob und die absolut authentische Neringa, führen den Erzähler in Frieden zu seiner Heimat zurück. Die zweite Ebene des Buches, hier vertreten durch den anderen Großvater, der sich von seiner nazistischen Vergangenheit nicht lösen konnte, wurde zwar an diesem Abend angesprochen, es blieb aber keine Zeit mehr, hierauf einzugehen. Den Diskussionsteilnehmern war es vielmehr sehr wichtig, jeweils Parallelen aus ihrem eigenen Leben zu diesem Buch darzustellen. Dazu gehörte auch eine ältere Dame, die berichtete, dass ein Großteil ihrer Familie, Inhaber eines Schreibwarengeschäftes in Höhe der Peterskirche, und viele Mitarbeiter bei dem Brand des Holzpflasters der Große Bleiche ums Leben kamen.
Auch für die anderen Teilnehmer an der Lesung galt der von Alain de Botton in seinem Text – Liebe, Lesen und Veränderung – zitierte Satz von Proust: „In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst“. Diese Möglichkeit bot Mosters Buch auch der kleinen Lesergruppe im ZMO und ganz offensichtlich ebenso sehr vielen Mainzer Bürgern. Mehr Bezug kann man von einem Buch nicht verlangen. Der ZMO wird an einer weiteren Lesereihe gerne wieder teilnehmen. Wir bedanken uns für die Arbeit des Vereins „Mainz liest“.
Jutta Hager